andersneu

d. erzählte neulich, dass in seinem dorf in den zwanziger jahren zwei leute ungestraft ermordet worden sind.

eine frau, die ihrem mann, einem steinbrucharbeiter, ein vergiftetes mittagessen im henkelmann mitgab, verriet sich durch folgenden ausruf, als man ihr den leichnam vom steinbruch brachte: "oh, ist er schon tot?".

es wurde nie eine anklage erhoben, eine obduktion für einen armen steinbrucharbeiter zahlt ja auch eben so mal keiner.

der andere gemordete wurde von einem liebeskonkurrenten erschossen. das ganze ging irgendwie als unfall durch. der familie des ermordeten liess das aber keine ruhe und sie errichteten einen gedenkstein mitten im dorf mit folgendem text:

zur erinnerung an n.n., durch einen tragischen unfall bei hellichtem mondschein zu tode gekommen.

bei hellichtem mondschein. der leser ahnt schlimmes. im dorf kann man diese geschichten immer noch von kregelen alten damen hören. so bleibt eben doch nichts verborgen.

vermutlich gibt es solche geschichten in jedem dorf. in meinem dorf, noch vor der grossen überfremdung den grossen neubaugebieten, war es auch nicht besser. mein vermieter zum beispiel, der in den frühen achtzigern zuzog, fand eines morgens einen anonymen brief in seinem briefkasten, in dem folgendes stand:

MIT DIR MACHEN WIR ES GENAUSO WIE MIT DEN KIRSCHEN!

ein kryptischer satz, der sich ihm aber sofort erschloss, als er in seinen garten schaute: sein kirschbaum war über nacht umgehauen worden.

naja. ich will nicht schwarzmalen. noch leben wir ja alle.

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st. elswhere, utopia und die träume von einem wirklich freien himmel. j'accuse-modus an und gefragt: warum war, als ich zur welt kam, die welt schon verteilt? enzensberger muss man nicht mögen, aber der satz ist gut. und du und ich haben tatsächlich das recht, jeden verdammten tag, an dem wir uns überkommen lassen, darüber zu klagen und dagegen anzuschreien. die verteilung der welt. wie aus ihrem kadaver jeden tag andere stücke gerissen und vermünzt werden. und ich, ich kümmere mich um meine kleine grosse welt, mehr kann ich auch gar nicht. aber manchmal, wenn ich darüber nachdenke, da wird mir richtig schlecht, da werde ich entsetzlich wütend. und da brauche ich den traum von st. elsewhere. sonst halte ich es hier fast nicht aus.

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d. so traurig am telefon, dass er nicht weinen könne. aber 8 kilo abgenommen. und die bandscheibe kaputt. als ob er dicker sein, und die bandscheibe heiler, wenn er nur weinen könne.

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favoritensterben.

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im pflegeheim gehen die türen nach innen auf. GUTEN TAG zu denen, die es noch bis in den aufenthaltsraum am eingang schaffen. rollstühle und krücken, drei damen mit weissem haar, keine antwort. verbrauchen ihre kraft allein mit sitzen. gang runter, die zimmer, die namensschilder. frau schultheiss, herr nolte, frau öhlschläger, niedersachsen und ostpreussen. neuerdings eine frau rutherford, merry old england. mein vater HALLO! ERKENNST DU MICH? schaut mich aus hellblauen augen an, nickt, hustenanfall. b., seine zweite frau, setzt mich ins bild: katheter, infektion, notarzt, wird wieder, wohl keine schmerzen. du musst laut mit ihm sprechen. laut, laut. WIE GEHT ES DIR eine normale frage stellen, obwohl b. schon informiert hat. was, flüstert er. nehm seine hand, er klammert sie um meine. spastischer krampf. eisenfinger. WIE GEHT ES DIR keine schmerzen, flüstert er. die hellblauen augen. seine hand halten. erzähl ihm doch was, sagt b. in megaphonstärke schwänke aus meinem leben, was vom dorf, was von den verwandten. er kriegt das schon mit. MICHI UND SUSI WOHNEN JA JETZT IN ELBERFELD ja, flüstert er, hustenkrampf. WAREN DIE AUCH MAL DA? ja, sagt b. die haben ihn letztens besucht. lange seine hand halten. er schliesst die augen. der eisengriff lockert sich. er schläft, sagt b., versuchs doch morgen noch einmal. auf wiedersehen, flüstere ich.

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im jüdischen museum aufwärts und abwärts gegangen (für mich hätte niemand das museum füllen müssen, mich haut schon dieses schräggehen um, auf dem klo sehr geweint).

diese leerstellen.

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da sitzen auf einmal leute mit am tisch, von denen man dachte, es gäbe sie gar nicht mehr. gespräche werden geführt, alte rechnungen noch mal aufgemacht, herr s. ist eben zur tür raus, ich soll sie schön grüssen (herr s. ist seit drei jahren tot).

über altersdemenz kann man viel skuriles berichten. was mich eigentlich beschäftigt: dieses aus dem rahmen fallen.

und manchmal, da frage ich mich, ob ich nicht diejenige bin, die aus dem rahmen fällt. und ob diese ratio-zeitleiste, auf der ich logisch lebe, nicht etwas ganz, ganz dünnes und zweifelhaftes ist.

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keine postkarte aus lourdes, aber er ist wieder da. ich frag ein bisschen wiewarsdennso, es ist wenig aus ihm herauszukriegen. was war das schönste? "ach", sagt er, "ach, die reise. ich war in frankreich, nicht."

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mit dem patron nach lourdes.

immer, wenn man denkt, man wüsste jetzt endlich, wer er ist, schlägt er einen haken. wir telefonieren, und er sagt:

"hallo. ich möchte mit dem patron nach lourdes fahren! was hältst du davon?"

"ja, das ist ja schön. aber welcher patron? und wieso nach lourdes?"

"wieso soll ich denn nicht nach lourdes fahren? ich war noch nie in lourdes!"

"äh ja, und wer ist der patron?"

"NA, MEIN PATRON, der GRAF natürlich!"

"ach so?"

"MEIN PATRON, der schützend seine hand über mich hält! den kennst du doch!! du warst doch mit dem sohn in der achten klasse...."

mein vater ist seit 4 jahren bettlägrig und lebt in einem pflegeheim. bis jetzt konnten wir nie irgendwelche zeichen geistiger verwirrtheit feststellen. radio und tv lehnt er ab, liest aber jeden tag die faz komplett durch, studiert religionswissenschaftliche bücher und erfrischt sich zwischendurch mit gedichten von goethe und seltsamerweise sarah kirsch. weltlichen ballast hat er von sich geworfen, seine antiquitätensammlung ist verkauft, nur drei ausgewählte bilder noch hängen an der wand seines heimzimmers. ein goya-druck aus dem 19. jahrhundert ("der ketzer"), eine blätterstudie von moritz von schwind und ein kleiner hase in öl eines unbekannten holländischen meisters.

je älter er wird, desto mehr rutscht er in eine geheimnisvolle konservative welt hinein. am anfang haben wir noch witze gemacht, dass das tägliche lesen der faz eben nicht so ganz gesund ist. aber das ist es natürlich nicht.

ganz straight von links nach rechts. man könnte ein lineal anlegen. er war mal kommunist (studentenagitation, semesterferien-fabrikarbeit-mannfredkrug-schweissernarbe aus der giesserei), dann hatte er eine weile (25 jahre) das spd-parteibuch in seiner schublade liegen. jetzt sagt er sätze wie "der teufel in stuttgart hat doch so eine schöne mehrheit!" und "wär es nicht schön, wenn wir wieder einen könig hätten." und fängt an, an adlige patrone zu glauben. und lourdes. er ist nachkriegszeltevangelisiert. und die nachkriegszeltevangelisierung hat grosse teile seines lebens bestimmt. katholisch war ganz lang das allerletzte.

irgendwie kommt er in irgendetwas....nach hause. nach hause. heim. eine welt mit autoritär bestimmten unten und obens. und
er fühlt sich wohl da. ein zuhause, das ich überhaupt nicht verstehe. katholizismus, royalismus.

"lourdes, glaubst du denn daran?"

"aber ich war noch nie in lourdes!!!"

vielleicht sind es die vier jahre pflegeheim. und das tägliche schauen auf goyas ketzer, auf die schwindsche blätterstudie und auch auf den kleinen holländischen hasen.

vielleicht ist das aber auch nur er selbst in reinform. was soll man sagen. hab ihn mir nie ausgesucht als vater, und er hat mich nie gewählt als tochter. aber man ist so alt, dass man die lage ohne bitterkeit betrachten kann.

nur wundern tut man sich, wundern. manchmal immer noch.

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ängste

schlaflos neulich. existenzangstböe. und überlegt, wovor ich angst hatte, als ich klein war.

1.) vor dem vorspann von "tatort".

man sitzt im wohnzimmersessel und tut so, als sei man unsichtbar und denkt, heut haben sie mich übersehen und vergessen, ins bett zu schicken, und gleich, gleich, gleich, haha, kommt: "spiel ohne grenzen!" ....und dann kommt tatort! mit dieser aufpeitschenden melodie, und dieses erschreckte gesicht, dass sich noch eine hand vor die augen reisst und diese fliehenden schritte!

2.) vor bienenstöcken.

wir sind im wald und spielen, und ich heb einen stock auf, der komisch aussieht. PASS BLOSS AUF, EY! sagt stefan DAS KANN EIN BIENENSTOCK SEIN! ein bienenstock? DA KOMMEN GANZ VIELE BIENEN RAUS, DIE STECHEN EINEN TOT! SCHMEISS IHN WEG!

3.) vor kaiser wilhelms vertrocknetem arm.

ommek und ich guggen alte bilder an. auf einem ist kaiser wilhelm. "pfrrrt", schnarrt ommek und kräuselt verachtungsvoll die lippen, "das is kaiser wilhelm mit seinem vertrockneten arm!". ich habe lange darüber nachgedacht, was man wohl ausgefressen haben muss, dass einem zur strafe der arm vertrocknet.

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