andersneu
Freitag, 12. März 2004
mit dem patron nach lourdes.

immer, wenn man denkt, man wüsste jetzt endlich, wer er ist, schlägt er einen haken. wir telefonieren, und er sagt:

"hallo. ich möchte mit dem patron nach lourdes fahren! was hältst du davon?"

"ja, das ist ja schön. aber welcher patron? und wieso nach lourdes?"

"wieso soll ich denn nicht nach lourdes fahren? ich war noch nie in lourdes!"

"äh ja, und wer ist der patron?"

"NA, MEIN PATRON, der GRAF natürlich!"

"ach so?"

"MEIN PATRON, der schützend seine hand über mich hält! den kennst du doch!! du warst doch mit dem sohn in der achten klasse...."

mein vater ist seit 4 jahren bettlägrig und lebt in einem pflegeheim. bis jetzt konnten wir nie irgendwelche zeichen geistiger verwirrtheit feststellen. radio und tv lehnt er ab, liest aber jeden tag die faz komplett durch, studiert religionswissenschaftliche bücher und erfrischt sich zwischendurch mit gedichten von goethe und seltsamerweise sarah kirsch. weltlichen ballast hat er von sich geworfen, seine antiquitätensammlung ist verkauft, nur drei ausgewählte bilder noch hängen an der wand seines heimzimmers. ein goya-druck aus dem 19. jahrhundert ("der ketzer"), eine blätterstudie von moritz von schwind und ein kleiner hase in öl eines unbekannten holländischen meisters.

je älter er wird, desto mehr rutscht er in eine geheimnisvolle konservative welt hinein. am anfang haben wir noch witze gemacht, dass das tägliche lesen der faz eben nicht so ganz gesund ist. aber das ist es natürlich nicht.

ganz straight von links nach rechts. man könnte ein lineal anlegen. er war mal kommunist (studentenagitation, semesterferien-fabrikarbeit-mannfredkrug-schweissernarbe aus der giesserei), dann hatte er eine weile (25 jahre) das spd-parteibuch in seiner schublade liegen. jetzt sagt er sätze wie "der teufel in stuttgart hat doch so eine schöne mehrheit!" und "wär es nicht schön, wenn wir wieder einen könig hätten." und fängt an, an adlige patrone zu glauben. und lourdes. er ist nachkriegszeltevangelisiert. und die nachkriegszeltevangelisierung hat grosse teile seines lebens bestimmt. katholisch war ganz lang das allerletzte.

irgendwie kommt er in irgendetwas....nach hause. nach hause. heim. eine welt mit autoritär bestimmten unten und obens. und
er fühlt sich wohl da. ein zuhause, das ich überhaupt nicht verstehe. katholizismus, royalismus.

"lourdes, glaubst du denn daran?"

"aber ich war noch nie in lourdes!!!"

vielleicht sind es die vier jahre pflegeheim. und das tägliche schauen auf goyas ketzer, auf die schwindsche blätterstudie und auch auf den kleinen holländischen hasen.

vielleicht ist das aber auch nur er selbst in reinform. was soll man sagen. hab ihn mir nie ausgesucht als vater, und er hat mich nie gewählt als tochter. aber man ist so alt, dass man die lage ohne bitterkeit betrachten kann.

nur wundern tut man sich, wundern. manchmal immer noch.

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