andersneu

gestern nacht über philippe ariès "geschichte der kindheit" und der schilderung der erziehung ludwigs XIII. eingeschlafen. Er geht zur Federballhalle, um dort ein Dachsrennen zu sehen. den satz, dass kinder die konservativsten menschlichen gesellschaften überhaupt bilden, sofort unterstreichen wollen.

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mein schüler tom hat gestern ein brötchen nach mir geworfen. die stunde war um, ich bring ihn runter in den hof, dreh mich um, tom greift in die mülltonne, holt ein altes brötchen aus dem müll - und zack, wirfts mir in den rücken.

in der stunde war nichts vorgefallen, was den brötchenwurf irgendwie erklären könnte. alles ganz normal.

ein brötchenwurf ist natürlich nicht normal. tom ist es auch nicht. er ist zwar erst sieben, aber nicht so dumm, dass er nicht wüsste, dass ein brötchenwurf konsequenzen hat.

mit drei sätzen war ich bei ihm und packte ihn am kragen. dieses zupacken ist pädagogisch fragwürdig, aber ich hatte keine lust auf eine verfolgungsjagd über den schulhof. währenddessen zum hunderttausendsten mal überlegt, warum diese toms (es gibt so viele davon) so sind. hat man ihnen keine grenzen beigebracht oder zu viele? wird zuhause bei tom alles geduldet oder wird er geschlagen?

kein kind will so sein. kinder wie tom haben schrecklich zerquälte gesichter, ständig auf grenzen unterwegs, die sie völlig überfordern. ich hatte mal einen anderen tom-schüler, der hatte so ein trauriges, hartes altmännergesicht, dass man hätte weinen mögen. man konnte richtig sehen, wie die dämonen über ihn kamen, wenn er sich in einen wutteufel verwandelte.

dem brötchentom habe ich eine ansprache in windstärke 10 gehalten und ihn dann müll aufsammeln lassen. ich kam mir zwar marines-mässig vor, aber manchmal muss das sein. nächste woche kommt er wieder, und dann gehe ich den vorfall noch einmal mit ihm durch.

vielleicht nützt es ja was.

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weia, ich hätts nicht tun sollen. julia bekommt eine brille. ihr nebensitzer paul hat ihr bereits angedroht:

ICH SCHMEISSE DIE BRILLE AUF DEN BODEN UND TRAMPELE DRAUF UND ZERKRATZE DEN LACK!

hab ihr darauf in einem schwachen moment empfohlen, zu paul doch zu sagen:

JA, ICH HABE EINE BRILLE. UND DAMIT KANN ICH GENAU SEHEN, WIE DOOF DU BIST!

alles falsch! dadurch eskaliert die situation nur noch mehr. ist nicht meine klasse, ist nicht mein problem, aber julia tut mir leid.

das wäre übrigens mal eine marktlücke. verbale selbstverteidigung für kinder und jugendliche in mobbing-situationen (brille, akne, läuse, keine markenklamotten, neue klasse, sitzenbleiben, zu dick, zu klein, zu gross, ausländer, lese-rechtschreib-schwäche, unsportlich, arbeitslose eltern usw.).

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helene: na kinder, bald ist ja fasching.

mareike: haha, fasching!

simon: die sagt fasching, haha!

franzi: faaaaasching.

laura: das heisst doch karneval!

mareike und simon: kaaaaaaarneval!

franzi: mann!

helene: ach ja, karneval. bei mir im dorf gehen die meisten männer als bären und die frauen als hexen.

simon: hexen sind total doof.

laura: ich bin prinzessin.

mareike: ich bin zigeunerin.

helene: mareike, was ist eine zigeunerin?

franzi: eine zigeunerin eben!

mareike: mit so ohrringen. meine mama geht auch als bär.

helene: geht dein papa dann als hexe? und du, simon?

simon: ich geh als seeteufel.

helene: seeteufel? du meinst pirat. du gehst bestimmt als pirat.

simon: nein! seeteufel!

helene: simon, ein seeteufel ist eine art fisch. du gehst doch nicht als fisch?

simon: haha, verarscht.

mareike und laura: hahahaha.

franzi: fisch! hahaha.

helene: simon, man sagt nicht "verarscht". niemals.



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ryan ohne psychopharmaka: ganz grossartig. und der kerl lacht wieder.

eine einzige aggresso-windmühlen-attacke in der stunde. pack seine arme im schraubstock, blitzschnell, eyes locked: ich oder du. ich.


dann geht es ganz normal weiter.



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mit ner kappe auf der kippe.

ryan geht es übrigens ganz gut. er darf auf der schule bleiben und er wächst jetzt auch. ich treff ihn auf dem gang und wir schwatzen. "hey, starke kappe" sag ich. er hat eine große basecap mit so einer skater-rune auf, ein paar verdächtig gelbe haarsträhnen lugen darunter hervor. "mensch, und du hast ja die haare gefärbt, zeich ma her, gelb, wow, der hit!" er lupft die kappe widerstrebend und grinst stolz und verlegen zugleich. andere jungs kaufen sich ne tube gel oder lassen sich ein paar blonde strähnchen machen, aber ryan ist immer ganz oder gar nicht. jedenfalls hat er einen komplett gelben kopf. und weil er sich dann so ganz in gelb doch nicht so sicher fühlt, hat er sich ne kappe drübergestülpt. trotzdem cool. später nach der stunde schwatzen wir dann auch noch mal. übers grosswerden. und mit diesem seltsamen abstraktionsvermögen, dass ihm zu eigen ist, erklärt er mir das: "wissen sie, ich komme ja nun bald in die pubertät". er sagt wirklich "nun bald". "und dann kommen die hormone, die machen dann ganz viel. dann wird alles anders, mit den hormonen dann, dann werde ich erwachsen!" und er sagt es mit so einer mischung aus stolz und angst und erwartung, huihui. und mit dem kopf ist er schon da. und alles ist ganz normal.

(immer noch volle medikamentierung, niemand kann/darf die verantwortung übernehmen, aggressionslevel zu hoch, juristisches gehedder. zappelphilippe sind anscheinend unzumutbar. wem eigentlich.)

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ryan, ryan.

dieser kleine junge will mir gar nicht mehr aus dem kopf gehen.

ryan: er ist 12 und hyperaktiv und hat einen windmühlenkörper, der niemals stillsteht. heavy-rotation-ryan. er erzählt hundert geschichten, ob man sie hören will oder nicht. unterentwickelt, aber begabt und intelligent. und er nervt wie die hölle, er ist entsetzlich agressiv. dünn wie ein strich, verhungerte augen, suizidal.

hab ihn so gern (kann nicht mal sagen, dass er mich an irgendwas erinnert, so fremd in seinem spackentum. was haben sie ihm bloss für einen mist reingetan. er ist doch noch so klein, für wen muss er bezahlen).

mich neulich wieder geärgert über common lehrerbashing. ja, wir können die guten lehrer wohl alle an einer hand abzählen. aber die, die für daumen und zeigefinger übrig bleiben. die begeben sich immer wieder in griechische tragödien hinein, unerwünscht. die haben eine rechtsschutzversicherung, es geht nicht anders. die schlafen manchmal schlecht, weil sie von sonstwas träumen, in das sie sich einmischen. die heulen manchmal vor wut über fremdes unglück und eigene machtlosigkeit und kriegen ein rückenleiden.

morgen ist mittwoch. unter anderem auch ryan-tag. die klassenlehrerin wird ihn vom bus abholen. er kommt nicht mehr von selbst in die schule, seit er weiss, das man ihn wohl in eine anstalt stecken wird.

nachmittags seh ich ihn dann. zu mir kommt er noch freiwillig. aber was kann man nur tun. was kann man nur tun.

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