andersneu
Freitag, 8. Oktober 2004

ommeks nonchalante art, ihr gebiss wieder zurechtzuschieben, wenn es ihr bei längerer rede verrutschte, störte nie den flow ihres geschichtenerzählens. sonntags nach dem mittagessen, wenn die schnitzel aufgemampft und der erdbeerkompott weggelöffelt war, nahm sie sich die zeit. wenn sie nicht immer auf ihr böhmentum gepocht hätte, man hätt sie gut auch preussisch nennen können: erst die pflichten, dann das vergnügen. aber für uns enkel ganz herz, wobei man sagen muss, dass sie alle tricks beherrschte. wenn man sie besuchen kam, lief man gleich zu ihr, wurschtelte sich an ihre schürze und: ommek! ommek! hast du wieder eine schaaaaaatzkiste für uns, eine schaaaaaaatzkiste! eine art regelmässiges ostern, vor jedem besuch versteckte sie ein mit gekauften süssies gefülltes kästchen für uns in ihrer wohnung. damit war sie als ommek natürlich auf der sicheren seite, kontrahentin oma schlesien konnte da mit ihren ollen knedeln einpacken. aber mit oma schlesien konnte man auch nicht kuscheln und überhaupt, sie hatte nicht viel zu sagen ausser: iss doch noch a bisl.

ommek hatte eine menge zu sagen. und am liebsten nach dem mittagessen auf dem sofa. wie man auf so einem rosshaargepolsterten 50er-jahre-sofa thronen konnte, wie sie es tat, ist mir heute rätselhaft. unsern kinderhintern wollte das störrische ding ja nicht nachgeben, wir boppten erst eine weile darauf herum bis die schnitzelschwerkraft sich einstellte, und ommek, kerzengrad zwischen uns, mit dem erzählen anfing.

man muss es sich ritualhaft vorstellen, ich weiss nicht, wieviele sonntagmittage da drin stecken, hunderte. ommek hat die geschichten nie uns kindern erzählt, wir waren eben da. die geschichten gingen an die erwachsenen drumherum auf den ebenso unbequemen rosshaargepolsterten 50er-jahre-stühlen. wir kinder waren satt und süss und sicher, und wenn ommek sprach, schwiegen alle, auch die, die sonst an einem nörgelten.

ommek erzählt. wie sie nach dem befehl in 24 stunden nur das nötigste einpacken darf, und onkel peter, so klein, die ganze zeit schreit. wie oppek sich drei wintermäntel übereinander zieht und gar nicht mehr laufen kann vor lauter mänteln. wie sie das familiensilber herrn rokyta anvertraut. wie sie die fotos auswählt, die sie mitnehmen will. wie sie ihre leica auf den grossen esstisch legt für den, der sie findet. wie die russen oppek seine wintermäntel abnehmen und lachen. wie später an der grenze onkel peter von wanzen fast aufgefressen wird, und sie nicht rüberkönnen und warten müssen und so tun müssen, als seien sie komplett gesund wegen der bestimmungen. wie die niedersächsischen verwandten, die looserneider, wolfenbüttel, ha!, sie so richtig klein machen. wie oppeks erste nachkriegstabaksernte über nacht gestohlen wird. wie sie röckchen für ihre töchter aus kastanienblättern macht. wie herr rokyta das familiensilber, versteckt in den radkappen, 1952 über die grenze schmuggelt und unter einsatz seines lebens plötzlich angefahren kommt.

ferner crime für uns kinder, nahe geschichten für die traumatisierten erwachsenen um uns rum: so viel stummer bauchschmerz und konkret erfahrene angst.

sie erzählte immer ganz neutral, niemals "wie ging es mir schlecht". manchmal verrutschte ihr dann das gebiss dabei.

reiche schatzkisten-ommek.



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