andersneu
Mittwoch, 21. August 2002
jetzt kann er nicht mehr gehen. aber bald wird er gehen. wie geht es dir.

"kommen sie doch morgen wieder, junge frau. ich möchte diese partie noch gerne zu ende spielen" sagt er, blickt von seinem schachspiel auf und lächelt mich an. blass sieht er aus, das braune haar ein bisschen angesilbert. er liegt in seinem bett, unbeweglich, wie ein auf den rücken gefallener käfer. mein vater.

ich komme am nächsten tag wieder. heute erkennt er mich. und ich überlege, ob es ein guter tag ist, weil er seine umgebung bewusst wahrnehmen kann. oder doch ein schlechter, weil er gestern so zufrieden, fast heiter schien. jetzt ist er sich seiner situation wieder bewusst, und wir sind traurig zusammen.

sein zustand ist schwankend, jeder besuch kann der letzte sein. und ich habe jedesmal das bedürfnis, ihn noch einmal so zu erleben, wie ich ihn gerne im gedächtnis behalten möchte. versteht mich nicht falsch, das mag sehr egoistisch klingen. aber ein paar gute dinge von ihm möchte ich behalten. auch um sie neben die schlechten dinge zu legen, die ich mit ihm erlebt habe.

und ich locke ihn auf seine alten erzählpfade, von damals bei der kommunistischen studentenbewegung, und als er noch rothhändle ohne filter geraucht hat, philosophie studiert und nebenher in der giesserei gearbeitet hat. zeig mir nochmal deine narbe. wie lebendig er dann wieder wird.

du kannst dir das einfach nicht mehr vorstellen, wie das war, sagt er. doch, kann ich, weil du es mir erzählst, sage ich. und frage mich dabei, was im laufe der jahre von seinen erinnerungen nicht immer goldener geworden ist. und ob er mir die geschichten nur so erzählt, weil er weiss, dass sie mir so gefallen. oder weil er so gerne geschichten erzählt. mein vater.

wie hat es mich früher aufgeregt, dieses durcheinander aus wahrheit und erfindung bei ihm. wo bist du wirklich, was hast du wirklich getan, habe ich ihn gelöchert....irgendwann habe ich begriffen, dass es nicht wirklich wichtig ist, wenn ich mit ihm spreche. dass die empfindungen zählen, dass subjektive wahrnehmung und erinnerung ein fass ohne boden sind.

und jetzt ist er wirklich zwischen den welten, einen tag hier, in der realität, und einen tag anderswo, an einem ort, von dem er nicht berichten kann.

ich komme morgen wieder.

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Last modified: 30.05.18, 23:40
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